In einer Welt, die von Massenproduktion und Konsum geprägt ist, gewinnt das Bewusstsein für Nachhaltigkeit immer mehr an Bedeutung. Eine Möglichkeit, diese Werte zu leben, liegt in der Rückkehr zu alten Handwerkskünsten, die nicht nur unsere Umwelt schonen, sondern auch eine tiefere Verbindung zu unseren Vorfahren ermöglichen. Das Spinnen und Zwirnen, eine der ältesten handwerklichen Tätigkeiten der Menschheit, ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie uralte Traditionen und das heutige Bedürfnis zu einer Gegenwart in Achtsamkeit miteinander verschmelzen können.

Spinnen und Zwirnen mit Bock, Ziege und Dornröschen

Schon vor Jahrtausenden begannen die Menschen, Naturfasern wie Wolle, Flachs, Hanf und Baumwolle für sich zu nutzen. Mit dem Grundstoff, also dem Vlies, war ein Filzen oder Walken möglich, um flächige Textilien zu erhalten. Und auch das Handwerk des Spinnens und Zwirnens reicht bis zu den Anfängen der menschlichen Zivilisation zurück.

Die mittels einfacher Handspindeln gewonnenen Fäden konnten durch den Vorgang des Zwirnens, also dem Verdrillen einzelner Fäden, zu robusten Kleidungsstücken weiterverarbeitet werden, sei es durch Stricken, Häkeln oder Weben. Aber auch Seile und andere Gebrauchsgegenstände entstanden aus diesen Naturmaterialien. Spätestens seit dem 13. Jahrhundert mutierten aus den Handspindeln die handbetriebenen Spindelräder, die unterbrechungsfrei den fertig gesponnenen Faden aufwickeln konnten. Eine Weiterentwicklung stellte der Spinnflügel dar, bei dem die Herstellung des Fadens und das Aufwickeln desselben in einem einzigen Vorgang gelang.

So, wie wohl in den meisten Haushalten heute ein Bügeleisen, eine Waschmaschine oder ein Mixer steht, befand sich etwa seit dem 17. Jahrhundert in beinahe jedem Haus ein Spinnrad, wie wir es auch heute noch kennen und nutzen. Dieses nunmehr mit Fuß- statt Handbetrieb und nicht mehr mit Bandfelge, sondern mit festem Radkranz als Antriebsrad, je nach Bauart und Zweck – zumindest im süddeutschen Raum – auch „Ziege“ oder „Bock“ genannt. Bei der Ziege sind Schwungrad und Spinnflügel (Spule) seitlich angeordnet. Der Bock bzw. das Bockrad steht auf einem Unterbau mit Trittbrett, ist also nach oben aufgebockt. Neben Ziege und Bock gibt es einfädige oder doppelfädige Spinnräder, Rahmen-, Picardie- oder Doppelflügelräder. Allen gemeinsam ist der Fußantrieb. Doch sogar alte Geräte in Form von Dreierflügel und ohne Fußantrieb sind in manchen Museen zu bestaunen oder werden wieder nachgebaut.

Welches dieser Spinnräder wohl unserem märchenhaften Dornröschen zum Verhängnis wurde? Die Abbildungen in diversen Kinderbüchern variieren hier. Doch sicher ist: Nicht das Spinnrad stach ihr in den Finger, sondern das spitze Ende einer Handspindel (auch: Fallspindel oder Spinnrocken) hat es in den Schlaf befördert. Da diese nur zum Spinnen von Flachs zur Herstellung von Leinen verwendet wurden, dürften wir heutzutage sicher sein.

Nachhaltigkeit, Kreativität und Einzigartigkeit

Einer der herausragenden Aspekte des Spinnens und Zwirnens ist seine Nachhaltigkeit. Wir erhalten eine höhere Qualität bei längerer Nutzungsdauer der Produkte, die aus lokaler Produktion stammen. Natürliche Rohstoffe sind erneuerbar und biologisch abbaubar, es entstehen also keine synthetischen Abfallprodukte. Strom wird ebenfalls nicht verbraucht. Es benötigt nur Seifenlauge sowie etwas Essig, um die Schafsvliese, bevorzugt im Regenwasser, zu waschen und an der Sonne zu trocknen. Im Gegensatz zu modernen industriellen Produktionsmethoden, die oft die Umwelt belasten, ist also das handwerkliche Spinnen ein ressourceneffizienter und dabei sehr kreativer Prozess, wie die „Wollfra“ (oberfränkisch für Wollfrau) aus der Heidelmühle bei Trebgast, Silvana Pezzi, betont (https://diewollfra.de).

Die neun Coburger Fuchsschafe, für die man sogar eine Patenschaft übernehmen kann, liefern der leidenschaftlichen Spinnerin den Grundstoff, also die Vliese. Unter dem Label des „Agrotourismus im Frankenwald“ wird die daraus gesponnene Wolle zu Kleidung, Gesundheitsprodukten, Deko und „Firlefanz“ verarbeitet. Beim Handspinnen, Zwirnen und Weiterverarbeiten kann sie ihre Kreativität ausleben, indem die Farbe, Textur und Dicke der Fäden individuell dem eigenen Geschmack oder den der Kunden anpasst, was zu einzigartigen und persönlichen Produkten führt.

Freilich – es ist Geduld erforderlich. Bei der Herstellung einer Joppe (Jacke) darf schon mal ein Jahr ins Land gehen, denn schließlich bearbeitet die Wollfra mehrere Aufträge parallel. Um etwa 600 Gramm Fäden aus einem kompletten, mehrmals gewaschenen Schafsvlies zu gewinnen, also zu spinnen, zu zwirnen und auf eine Haspel abzunehmen, um sie abschließend zu verstricken – das dauert natürlich. Doch wer auf seinen ökologischen Fußabdruck Acht gibt und ein echtes und persönliches Unikat erstehen will, dessen Warten wird sozusagen lebenslang belohnt. Gewaschen werden muss so eine Joppe nicht mehr. Flecken werden lediglich mit etwas Gallseife behandelt. Noch eine Ressourcenersparung.

Wiederbelebung, Wertschöpfung und Entschleunigung

In einer Zeit, in der Fast Fashion und Massenproduktion die Norm sind, kann das Wiederbeleben des Spinnens und Zwirnens eine besondere Rolle bei der Förderung von Nachhaltigkeit spielen. Es ermutigt Menschen, bewusster über ihre Konsumentscheidungen nachzudenken und sich auf hochwertige, langlebige Produkte zu besinnen, anstatt sich von kurzlebigen Trends leiten zu lassen. Darüber hinaus ermöglicht das Erlernen dieser alten Handwerkskunst eine Verbindung zur Geschichte und Kultur unserer Vorfahren, deren Weisheit und Fertigkeiten wir damit ehren können.

Wer sich selbst ans Spinnen und Zwirnen herantrauen möchte, kann Kurse besuchen, wie sie beispielsweise Silvana Pezzi einzeln oder in kleinen Gruppen anbietet. In zwei Stunden hat sie mir zumindest bereits das Spinnen eines Schafwoll-Fadens beibringen können, als ich sie zum Thema interviewte. Mit meinem nackten Fuß beständig rhythmisch tretend, dabei mit der linken Hand das Vlies haltend und für den Einzug auf die Spindel vorbereitend zupfen, mit der rechten Hand den Einzug des Fadens regulierend, und das alles in möglichst entspannter Haltung… Ja, so könnte ich mir das Erreichen eines tranceähnlichen Zustands vorstellen, der entstressend wirkt, aber dennoch das (mir wichtige) Gefühl vermittelt, etwas Sinnvolles geschafft zu haben. Die „schwangeren Regenwürmern“, die bei zu viel Drall entstehen, zeigen mir aber auch deutlich, dass ich gut ein wenig Tempo aus meinem Leben rausnehmen könnte. Mir wurde jedenfalls klar: Das Handwerk des Spinnens und Zwirnens ist mehr als nur eine alte Tradition. Es ist eine Quelle der Inspiration für eine nachhaltige, bewusste und entschleunigende Lebensweise. Indem wir uns dessen bewusst werden und indem wir das Handwerk ehren und weitertragen, können wir die Werte der Nachhaltigkeit und Qualität in einer Welt fördern, die oft von Massenproduktion und Verschwendung geprägt ist. Die Schönheit der Naturfasern, die Weisheit der Vergangenheit und die Einsicht in die handwerkliche wie geistige Wertschöpfung(skette) können uns auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Zukunft anleiten.

Autor / Autorin: Ilona Munique | Fotos: ©Ilona Monique, ©Uschi_Du-pixabay.com

Lese-Tipp: Schafwoll-Bibel

Wer sich in die Handwerkskunst der Verarbeitung von Schafwolle vertiefen und sein eigenes Garn spinnen oder filzen möchte und auf der Suche nach profundem Wissen ist, kommt an dem vor wenigen Wochen erschienenen Kompendium eigentlich nicht vorbei. Auf 560 Seiten erklärt das Autorentrio jegliche Fragen, die sich im Zusammenhang mit der immer beliebter werdenden Passion stellen. 46 detaillierte Schafrasseporträts geben zudem Auskunft, welche Wolle sich zu welchem Vorhaben eignet. Zahlreiche Beispielprojekte inspirieren bei der eigenen Umsetzung. SEK

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